A1Der Wert des Menschen

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Pexels / RDNE Stock project

Wer unfruchtbar, behindert, fremd, weiblich, Sohn eines Sklaven, besiegt oder schwach war, galt im alten Europa als minderwertig. Frauen galten, wie in vielen Ehrenkulturen, erst dann als respektabel, wenn sie Söhne geboren hatten. Seit Urzeiten war die Identität der Menschen durch ihre Herkunft bzw. ihre äussere Situation fest genagelt. Wohnort, Beruf, Familienrolle und meist sogar die Braut wurden vom Clan bestimmt. Die Idee, dass jeder ein Individuum sei und unabhängige Entscheidungen treffen könnte, war noch gar nicht geboren. Religion, Familie und Gesellschaft zwangen den Einzelnen, seine vorgegebene Rolle zu spielen. Nicht nur Sklaven blieben ihr Leben lang an ihre Situation gebunden. Niemand konnte in einen anderen Stand heiraten. Nur erstgeborene Männer nobler Clans kamen als Regenten in Frage. Das ganze Leben war an ziemlich klare Vorgaben gebunden, die sich nach Geschlecht und sozialer Stellung richteten. Dadurch lebten die Menschen wie in einem unsichtbaren Gefängnis. Jeder Ausbruch aus dieser Kultur wurde als Rebellion empfunden und mit Gewalt geahndet, die bis zu Mord gehen konnte (Ehrenmord).
Einer der Gründe für die rasche Verbreitung des Christentums im Römerreich war, dass dieses erstmals eine Chance bot, aus dem Clan-Gefängnis auszubrechen. Gemäss der Bibel galt das zentrale Interesse Gottes nämlich dem Einzelnen, auch wenn er wie David der Kleinste und Jüngste der Familie sein sollte. Jesus bietet in den Evangelien eine geistliche Neugeburt an, durch welche die Menschen von ihrer alten Identität befreit werden und eine neue annehmen können. Der Christus gab sich ganz besonders mit den Verachteten ab, und gab ihnen dadurch Wert. Er erklärte und lebte praktisch, dass die „Ersten die Letzten“ und die „Letzten die Ersten“ sein werden.

Jesus wählte seine Jünger ganz unkompliziert mitten aus dem Volk. Diese Freiheit weckte ganz besonders bei Frauen, Sklaven und Unterdrückten Begeisterung, denn sie waren seit alters her die Chancenlosen. In der Kirche sass der Gelehrte neben dem Bettler, der Jude neben dem Heiden und der kinderreiche neben dem kinderlosen. Alle wurden dort gleichwertig behandelt. Eine völlig revolutionäre Idee. Alle sahen sich als Sünder, welche nur dank der göttlichen Gnade überhaupt dort sein durften. Und man musste nicht der Erstgeborene einer bestimmten Familie sein, um mit der geistlichen Welt in Kontakt treten zu dürfen. Jesus erklärte, dass sein Opfer am Kreuz jedem Einzelnen direkten Zugang zu Gott ermöglicht, nicht als Teil einer noblen Familie, sondern als unabhängiges Individuum. Ohne die Entdeckung des Individuums und seines Wertes, unabhängig von Geschlecht und Herkunft,  wäre die ganze spätere Entwicklung Europas undenkbar. Dieser Prozess ist grundlegend und einzigartig in Europa, und kann historisch eindeutig auf den Einfluss der Bibel zurückverfolgt werden.   
 
Ihre volle Entwicklung benötigte allerdings einen langen Weg und wird von Larry Siedentop in „Die Erfindung des Individuums“ faszinierend, detailliert und überzeugend dargelegt.

MEHR DETAILS SIEHE:
Larry Siedentop, “Die Erfindung des Individuums”, Klett-Cotta, Stuttgart, 2015